Santiago. Entgegen aller Erwartungen haben die linken Kräfte in Chile am Sonntagabend einen Wahlsieg auf ganzer Linie erreicht. Bei den Wahlen für die Verfassungsgebende Versammlung sowie den Regional- und Kommunalwahlen gewannen in vielen Orten linke Persönlichkeiten Spitzenplätze.
Glücklich blickte am Sonntagabend Giovanna Grandón in die Kameras der Fernsehsender. Sie ist von Beruf Schulbusfahrerin und wurde wegen ihres Pokemonkostüms bekannt, in dem sie jeden Freitag auf die Proteste seit Oktober 2019 im Stadtzentrum ging. Heute ist sie eine von 27 Mitgliedern der Lista del Pueblo, die am Wochenende in den Verfassungskonvent gewählt wurden. Die selbsternannte Liste des Volkes ist ein Bündnis aus Aktivist:innen der Oktoberrevolte von 2019. Umfragen sagten ihnen eine einstellige Zahl an Plätzen im Verfassungskonvent voraus.
Auch das Bündnis Apruebo Dignidad, bestehend aus dem linken Frente Amplio und der Kommunistischen Partei (KPCh), erzielte einen Überraschungserfolg. Das Parteienbündnis stellt 28 der 155 Sitze im Verfassungskonvent. Damit haben antineoliberale Kräfte die ersehnte Sperrminorität erreicht und werden mit ihren Forderungen für mehr Demokratie, soziale Grundrechte und Umweltschutz die Verfassung maßgebend prägen.
Die rechten Parteien hingegen erlitten eine herbe Niederlage. Sie verfehlten das selbstgesetzte Ziel der Sperrminorität von einem Drittel und verloren die meisten der wichtigen Gemeinden außerhalb der Oberschichtsviertel von Santiago. Sie erreichten gerade einmal 37 Sitze und sind innerhalb des Konvents isoliert.
Auch die Parteien des ehemaligen Regierungsbündnis Concertación wurden hart abgestraft. Die Christdemokratische Partei, die bereits mehrere Präsidenten stellte, erlangte gerade einmal zwei Sitze. Ein Parteimitglied nach dem anderem räumte nach Bekanntgabe der Ergebnisse das Scheitern der eigenen Partei ein. Die ehemalige christdemokratische Präsidentschaftskandidatin, Ximena Rincón, sagte gar ihre Kandidatur ab. Die neoliberale Mitte ist aus der politischen Landschaft praktisch verschwunden.
Dabei war der verfassungsgebende Prozess durch die rechten und Mitte-Links Parteien initiiert worden. Angetrieben durch die Protestwelle von Oktober 2019 wurde am 15. November das Abkommen für Frieden und eine Verfassung angekündigt. Der Prozess wurde vor allem wegen der angekündigten Sperrminorität von einem Drittel kritisiert. Bis zuletzt war erwartet worden, dass die Rechte ein Drittel der Stimmen auf sich würde vereinen können.
"Heute beginnt die Möglichkeit eines realen Wandels in Chile", sagte der Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, am Sonntagabend. Das Wahlergebnis liefert eine Steilvorlage für die kommenden Präsidentschaftswahlen im November 2021, bei der Jadue laut Umfragen derzeit als Favorit gilt.
Doch der politische Wandel hat auf lokaler Ebene bereits begonnen. In mehreren wichtigen Gemeinden übernahmen linke Bürgermeister:innen das Amt. Sie alle traten mit einem Programm an, dass insbesondere die Immobilienunternehmen in die Schranken weisen will. In Santiago gewann die Kommunistin Irací Hassler knapp gegen ihren rechten Kontrahenten Felipe Alessandri. Damit regiert erstmals eine Kommunistin im politischen Zentrum des Landes.
In der Region von Valparaíso gewann der Umweltaktivist Rodrigo Mundaca in der ersten Runde mit 43,7 Prozent die Gouverneur:innenwahlen. Mundaca ist durch seine Aktivitäten gegen die Wasserprivatisierung und die Großgrundbesitzer:innen von Avocadoplantagen weltberühmt geworden. Sein Sieg ist eine Kampfansage an die sogenannten Avocadobarone, die an den Hängen der Voranden sich ganze Gemeinde angeeignet und die lokale Politik geschmiert haben.
Das Wahlergebnis ist der größte Sieg der Linken seit der Regierung von Salvador Allende. Die Märkte reagierten darauf mit gewohnten Kursabstürzen. Die Börse von Santiago verlor am Montagmorgen 9,2 Prozent ihres Wertes.