Proletariat und Sozialismus kontra Bürokratie und Staatskapitalismus


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29.12.15
SozialismusdebatteSozialismusdebatte, Debatte 

 

Rosa Luxemburg und  Lenin

Von Siegfried Buttenmüller

Am 15. Dezember 2016 findet in Berlin wieder die alljährliche Demonstration zu ehren der ermordeten Spartakisten Rosa Luxemburg [1] und Karl Liebknecht [2] statt. Zeitweilig wurde und wird auch versucht, diese Kundgebung zur „Lenin-Demonstration" oder doch zur „Luxemburg-Liebknecht-Lenin-Demonstration" umzufunktionieren.

 Zwischen Rosa Luxemburg und Lenin gab es jedoch viele grundsätzliche Kontroversen und Dispute die in diesem Artikel einmal aufgearbeitet werden sollen.

In Polen kreuzten sich beider Wege mehrfach, denn Rosa Luxemburg begann ihre politische Aktivität in Ostpolen wo Sie geboren wurde, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. So waren beide zeitweilig Mitglied in selbiger Sozialdemokratie Rußlands. Eine der großen Kontroversen zwischen beiden entzündete sich an Lenins Unterstützung für Józef Klemens Piłsudski [3], die Rosa Luxemburg scharf kritisierte. Jener Pilsudski, der im August 1920 in der Schlacht bei Warschau [4] der Roten Armee der Bolschewiki [5] eine vernichtende Niederlage beibringen sollte und die als militärische Entscheidungsschlacht zwischen „kommunistischen" und „kapitalistischen" Truppen in Europa gesehen werden kann, wie das die Bolschewiki auch getan haben.

 Die Ursachen der Niederlage in dieser weltgeschichtlich sehr bedeutenden Schlacht in Polen waren jedoch letztlich nicht militärischer sondern politischer Natur. Politische Fehler und Irrwege wie sie vorher genau in den Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin zum Ausdruck kamen, waren ursächlich: Erst unterstützte Lenin das „Selbstbestimmungsrecht" der Polen, nämlich einen bürgerlich kapitalistischen Staat gründen zu dürfen sowie Pilsudski auch persönlich, drehte sich dann aber um 180 Grad und wurde wortbrüchig, indem er versuchte, Warschau von der Roten Armee gegen den Widerstand der Bevölkerung besetzen zu lassen.

Polen war lange zwischen dem russischen Zaren, dem österreich-ungarischen Kaiser und dem deutschen Kaiserreich geteilt gewesen. Dadurch hatte das Land keine eigenständige Entwicklung und Industrialisierung gehabt und war vielmehr von außen über die Ostsee und die Nachbarländer entwickelt worden. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Rückständigkeit sah Rosa Luxemburg in einem „nationalen Befreiungskampf" der Polen und der Gründung eines bürgerlich polnischen Nationalstaates keine Perspektive. Sie setzte auf das polnische Proletariat das seinen Beitrag zur Sozialistischen Weltrevolution leisten sollte. Die Unterdrückung der Polen und aller anderen Völker konnte für Rosa Luxemburg nur durch die sozialistische Revolution durch das Proletariat und im Sozialismus erfolgen.

 Lenin ging hingegen von seiner „Etappentheorie" aus. Nach seiner Ansicht mußten sämtliche feudalen oder besetzten Länder zunächst bürgerliche Nationalstaaten werden, damit der Kapitalismus die Produktivkräfte entwickle und hernach irgendwann in der Zukunft das Proletariat erst die sozialistische Revolution durchführen und die Macht ergreifen könne.

 Aus diesen Gründen bekämpfte Rosa Luxemburg bereits in ihren jungen Jahren in Ostpolen die polnische Nationalbewegung und versuchte dort eine Kommunistische Partei des Proletariates aufzubauen. Ihr Gegner war vor allem Józef Pilsudski, der dem rechten Flügel der polnischen Sozialdemokratie angehörte und der als Hauptziel die Gründung eines polnischen Nationalstaates hatte, und gute Beziehungen zu Lenin pflegte.

 Lenin unterstützte Pilsudski in dieser Zeit und fiel damit Rosa Luxemburg und den Linken in Polen in den Rücken. Außerdem hatte Józef Pilsudski und sein Bruder Bronislaw [6] zusammen mit Lenins Bruder Alexander Uljanow [7] einen Sprengstoffanschlag auf den Zaren Alexander III. [8] vorbereitet, weshalb Lenins Bruder hingerichtet wurde und die Pilsudski Brüder in das Gefängnis und in die Verbannung mußten. Hierdurch ergaben sich sicher auch persönlich Verbindungen zwischen Pilsudski und Lenin.

 Auch Rosa Luxemburg mußte Russisch-Polen [9] verlassen. Die einzige Universität in ganz Europa die auch Frauen als Studenten akzeptierte, war damals in Zürich. Nur dort hatte Sie Zugang zu Büchern um ihre Studien zur politischen Ökonomie, zur Philosophie und des Marxismus weiter betreiben zu können. Und Zürich war der bedeutendste Ort für Sozialisten, weil dort Vertriebene oder geflüchtete Sozialisten aus Deutschland, auch aus Rußland und anderen Ländern ein Exil fanden. Hier gründete Rosa Luxemburg ihre Gesprächskreise mit polnischen, russischen und deutschen Emigranten und Linken, die Sie unterstützten. Lenin gehörte jedoch nicht zu diesen Gesprächskreisen, obwohl er auch in Zürich wohnte. Nationalismus und Sozialismus waren für Rosa Luxemburg unvereinbar und sie wurde international federführend für diese Marxistische Linie innerhalb der Sozialdemokratie.

Dafür wurde sie antisemitisch angegriffen und auch als Volksverräterin beschimpft. Aber auch innerhalb der Zweiten Sozialdemokratischen Internationale bekämpfte man sie und entzog ihr zeitweilig den Delegiertenstatus und das Rederecht auf internationalen Kongressen. Doch Rosa Luxemburg und ihre Gruppe, unter Anderem mit Leo Jogiches [10], Julian Balthasar Marchlewski [11], Adolf Warski [12], Jean Jaurès [13], Alexander Seidel und Alexander Parvus [14] hielten dagegen, gründeten Zeitungen wie in Paris und veröffentlichte auch Artikel im Sozialdemokratischen Vorwärts [15].

 Außerdem stellte die Gruppe fest das Georgi Plechanow [16] unter anderem Schriften von Marx ins Russische falsch übersetzt und falsch interpretiert hatte. Daher wurden diese Schriften neu übersetzt und in Russland verteilt, was jedoch wieder Sanktionen durch die russische Sozialdemokratie unter Plechanow nach sich zog. Plechanow war jedoch eine Vater- und Freundfigur für Lenin gewesen und der stand deshalb nicht auf Rosa Luxemburgs Seite, wie sein Schüler Lenin nicht.

 Als in Polen eine eigene Sozialdemokratische Partei gegründet wurde und diese den „nationalen Befreiungskampf" auf ihre Fahnen schrieb, gründete die Gruppe um Rosa Luxemburg eine linkssozialistische Konkurenzpartei die schließlich auch als Partei der Zweiten Internationalen anerkannt wurde.

 Viel später spaltete sich allmählich auch die russische Sozialdemokratie in Menschewiki [17] und Bolschewiki auf. Bemerkenswert ist das Lenin und die anderen Bolschewiki von Rosa Luxemburg beeinflusst wurden und nicht umgekehrt, wie oft fälschlich angenommen wird. Lenin folgte allmählich dem Beispiel der Gruppe von Rosa Luxemburg in Russisch-Polen und arbeitete mit den Bolschewiki in Russland auf den Aufbau einer Kommunistischen Partei unter Hinausdrängung der Menschewiki und auch von Plechanow hin. Die Abwendung Lenins und der Bolschewiki von Plechanow und der nationalistisch gewordenen Sozialdemokratie  war sicherlich ein großer Erfolg der Marxistischen Gruppe, die von Rosa Luxemburg angeführt wurde. Ihre Neuübersetzung des Marxismus in das Russische und ihr Kampf für den Sozialismus in Russisch-Polen war die Basis für die Entwicklung der Bolschewiki bis zum 1 Weltkrieg und die Kriegsopposition auch in Russland.

 Nach Abschluß ihrer Studien ging Rosa Luxemburg 1898 derweil nach Deutschland und wurde gemäß der Strategie ihrer Gruppe Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Bald war sie dort die Wortführerin der Linken und bestrebt, die Einheit des polnischen, deutschen, russischen und internationalen  Proletariates herzustellen. Durch gute Argumente und gute Reden half ihr das die Sozialdemokratie in Schlesien z.B. erstmals Sitze gewinnen konnte.

 In Deutschland bekämpften die Spartakisten [18] um Rosa Luxemburg die Abspaltung der Gewerkschaften von der SPD, die damals noch als sozialistisch galt. Obwohl die „Linksradikalen" in dem damaligen SPD-Vorsitzenden August Bebel [19] z.B. gewichtige Verbündete hatten, konnte diese Abspaltung und Gründung bürgerlicher „Unabhängiger Gewerkschaften" nicht verhindert werden. Eines ihrer bekanntesten Werke: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften", von 1906 stammt aus der Zeit des Kampfes um den Erhalt Sozialistischer Gewerkschaften.

 Außerdem wendete sich Rosa Luxemburg gegen den nach Friedrich Engels [21] Tod aufkommenden Revisionismus [22] und Reformismus [23] und die Verbürokratisierung der SPD, deren Funktionäre allmählich mehr die Interessen ihrer eigenen Schicht vertraten anstatt die des Proletariates. Ihr Werk: „Sozialreform oder Revolution ?" von 1899 gehört bis heute zu den wichtigsten Ein weiterer Schwerpunkt für Rosa Luxemburg war der Kampf gegen den immer bedrohlicher herannahenden Ersten Weltkrieg, gegen den sich auch die anderen Internationalisten und Spartakisten wie Karl Liebknecht und Franz Mehring [25] mit alle Kraft stemmten. Deshalb wurde Rosa Luxemburg im Februar 1915 schließlich verhaftet und eingesperrt, konnte deshalb wie Karl Liebknecht nicht an der internationalen Zimmerwalder Konferenz [26] vom 5.-8. September teilnehmen. Beide wurden jedoch in der Schlussresolution explizit erwähnt.

 Bis auf wenige Monate war Rosa Luxemburg während des ganzen Ersten Weltkrieges wegen ihres Kampfes gegen den Krieg und den Kapitalismus inhaftiert. Und zwar weit im Osten in Breslau sowie bei Wronki [27] nördlich von Posen (Poznan), wo sie heimlich Informationen auch über die Lage in Russland und Polen sammelte und verarbeitete. Rosa Luxemburg machte keine Kompromisse und verbündete sich nie mit den herrschenden Klassen.

 Lenin verhandelte dagegen mit der Reichswehrführung über ein Bündnis und wurde von dieser schließlich mit allen Freunden per Zug im März 1917 nach Rußland gefahren. Karl Radek [28] war darunter, die rechte Hand Lenins, der später die Zusammenarbeit von KPD und NSDAP (Schlageter [29]-Linie der KPD) begründen sollte. Rosa Luxemburg war nicht unter den etwa 500 Menschen, die von der Reichswehr auf Vorschlag Lenins nach Russland gefahren wurden. Die Züge Richtung Russland, teils über Schweden, fuhren jedoch nicht sehr weit am Internierungsort von Rosa Luxemburg bei Wronke im heutigen Polen vorbei und er dürfte an sie gedacht haben, als sie links liegen blieb wenn er zurück blicke.

 In der Entscheidungsschlacht um Warschau [4] drei Jahre später und über ein Jahr nach Rosa Luxemburgs Tod, kamen die Kavallerie Spitzen von Lenins Roter Armee jedoch fast bis zum ehemaligen Gefängnis von Rosa Luxemburg vor.

 Fast während des gesamten Ersten Weltkrieges saß Rosa Luxemburg im Gefängnis und war daher in ihrer Handlungsfähigkeit sehr eingeschränkt. Hätte Sie ihre brillanten Reden halten und Artikel schreiben können, hätte Sie die Geschichte sicher noch mehr beeinflußt wie sie es ohnehin getan hatte.

 Sie war es gewesen, die die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Sozialismus von Anfang an festgestellt und propagiert hatte. Ihrem Einfluß war es vor allem geschuldet, das sich die Bolschewiki von Plechanow abwendeten und sich ein Marxistisches Parteiprogramm gaben. Sie war der Kopf des internationalen Proletariates und der Sozialistischen Weltrevolution gewesen. Leo Trotzki [30] urteilte über sie das sie „der Adler der Revolution" gewesen sei, und damit hatte er Recht, auch wenn er das viel zu spät bemerkt hatte.

 Die russische Revolution war unter Lenin zur Diktatur der Bürokratie verkommen. Partei und Staatsbürokraten herrschten und entmündigten das Volk, dem ein staatskapitalistisches Wirtschaftssystem aufgezwungen wurde. 

 Seltsam ist nun wenn Leninisten behaupten, „Lenin" sei der große Führer des Sozialismus gewesen und wenn sie davon ausgehen, Rosa Luxemburg sei ihm nur gefolgt. Umgekehrt war es, Rosa Luxemburg war die Antreiberin und Vorbereiterin und Lenin  ist ihr weit zurückbleibend und nur zeitweilig gefolgt. Luxemburg verfasste 1918 die Schrift „Zur russischen Revolution".

1920, dem Jahr zahlreicher selbst verschuldeter Niederlagen der Bolschewiki von der Schlacht bei Warschau bis zum Kronstätter Matrosenaufstand [32] von Ende Februar bis zum 18. März 1921 und der Niederschlagung von Bauernaufständen, brachte Lenin noch sein primitives Pamphlet: „Linker Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" heraus. Hier verteidigte er die absolute Machtergreifung und Diktatur durch die Bolschewiki und sämtliche Maßnahmen der Bürokratie. Rosa Luxemburg konnte darauf nicht mehr antworten, aber ganz sicher hätte sie es getan denn sie war gemeint und alle die am Sozialismus von Engels und Marx festhielten.

 Wenn man also die zahlreichen Kontroversen und grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten bedenkt, die zwischen Luxemburg und Lenin bestanden und auch das sie sich trotz häufiger räumlicher Nähe mindestens aus dem Weg gingen und nicht befreundet waren, ist es wohl kaum nachvollziehbar, warum eine Liebknecht-Luxemburg-Gedenkdemonstration [34] nun zur „Lenin-Gedenkdemonstration" umgedeutet werden sollte.

 Nötig ist sich mit dem Power-Genie Rosa Luxemburg auseinander zu setzen. Sie zeigte auf wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Eine Aufgabe die heute noch vor uns liegt und um diese zu bewältigen, muß Lenin als Sackgasse und Irrweg benannt werden.

 Siegfried Buttenmüller